BGH zum Ersatz des Differenzschadens bei unzulässiger Abschalteinrichtung

BGH zum Ersatz des Differenzschadens bei unzulässiger Abschalteinrichtung

Muss der Hersteller eines Pkw, den er mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung versehen hat, dem Erwerber Schadensersatz leisten?

Der Dieselskandal zieht weiter seine Kreise. Um Abgasnormen zu erfüllen, haben Hersteller in der Vergangenheit unzulässige Einrichtungen eingebaut. Den Erwerbern drohten Stilllegungen oder kostenintensive Umrüstungsarbeiten. Kann der Erwerber eines solchen Pkw von dem Hersteller insofern Schadensersatz verlangen?

A. Sachverhalt

Der Kläger (K) hat von einem Autohaus (V) einen gebrauchten Pkw mit Dieselmotor für 44.900 Euro gekauft. Dieses Fahrzeug hat die Beklagte (B), eine AG, hergestellt. Sie hat es mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung, einem sog. Thermofenster, versehen. Dabei wird die Abgasrückführung durch eine temperaturabhängige Steuerung des Emmissionskontrollsystems je nachdem reduziert oder abgeschaltet. Ein solches Thermofenster ist eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 II 1 VO (EG) 715/2007. Ferner hat B eine unzutreffende Übereinstimmungsbescheinigung nach §§ 6 I, 27 I EG-FGV (= EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung) erteilt. Diese ist erforderlich für die Erlangung der Betriebserlaubnis und die Zulassung. Das Fahrzeug unterlag einem noch nicht bestandskräftigen Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt.

K verlangt von B unter anderem die Zahlung von Schadensersatz i.H.v. 33.652,45 Euro.

B. Entscheidung

Die Käuferin macht insofern einen Schadensersatzanspruch geltend.

I. Keine vertraglichen Ansprüche

K hat den Kaufvertrag über den gebrauchten Pkw für 44.900 Euro mit dem Autohaus V nach § 433 BGB geschlossen. Mangels unmittelbarer Rechtsbeziehungen zu dem Hersteller B scheidet ein etwaiger vertraglicher Schadensersatzanspruch nach §§ 437 Nr. 2, 280, 281, 283, 311a BGB aus.

II. Keine vertragsähnlichen Ansprüche

Zwischen K und B bestand auch kein vorvertragliches Schuldverhältnis. Somit kommt auch kein vertragsähnlicher Schadensersatzanspruch aus c.i.c. nach §§ 280 I, 311 II Nr. 1, 241 II BGB in Betracht.

III. Keine dinglichen Ansprüche

Ferner bestand keine Vindikationslage (Eigentümer-Besitzer-Verhältnis = Eigentümer, Besitzer, Besitzer kein Recht zum Besitz), da B nicht Besitzer des Pkw ist, sodass auch etwaige Schadensersatzansprüche nach z.B. §§ 989, 990 BGB ausscheiden.

IV. Deliktische Ansprüche

In Betracht kommen jedoch deliktische Ansprüche.

1. §§ 826, 31 BGB

K könnte gegen B einen Schadensersatzanspruch haben i.H.v. 33.652,45 Euro nach §§ 826, 31 BGB.

Ein Schadensersatzanspruch nach § 826 BGB setzt voraus: Schadenszufügung, Sittenwidrigkeit, Schädigungsvorsatz. Sofern die Tatbestandsvoraussetzungen durch den Vorstand einer AG, einer juristischen Person des Privatrechts, nach § 278 I 1 AktG erfüllt worden sind, haftet die AG hierfür nach § 31 BGB aufgrund der Organhaftung. (Der BGH ist nur auf den Prüfungspunkt der Sittenwidrigkeit eingegangen.)

a) Verwendung der Abschalteinrichtung nicht sittenwidrig

Sittenwidrig ist ein Verhalten, dass gegen das Anstands- und Rechtsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Die Sittenwidrigkeit enthält ein objektives und ein subjektives Element. Objektiv handelt es sich zwar um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 II 1 VO (EG) 715/2007. Aber es wäre der

Gesetzesverstoß für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die für die Bekl. handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen.

Das Vorliegen des subjektiven Elements

setzt jedenfalls voraus, dass die für die Bekl. handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung des Thermofensters das Bewusstsein hatten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Das BerGer. hat ein solches Vorstellungsbild und Verhalten dieser Personen nicht festgestellt.

Zwar kann sich die

Verwerflichkeit des Handelns der Bekl. auch aus einer bewussten Täuschung im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens ergeben.

Eine bewusste Täuschung hat das Gericht aber nicht festgestellt.

b.) Keine anderen Abschalteinrichtungen vorhanden

Ferner liegen keine anderweitigen unzulässigen Abschalteinrichtungen vor, aus denen eine Sittenwidrigkeit resultiert.

Ergebnis:

K hat gegen B keinen Schadensersatzanspruch i.H.v. 33.652,45 Euro nach §§ 826, 31 BGB.

2. §§ 823 II, 31 BGB

K könnte gegen B einen Schadensersatzanspruch haben i.H.v. 33.652,45 Euro nach §§ 823 II, 31 BGB i.V.m. §§ 6 I, 27 I EG-FGV.

Ein Schadensersatzanspruch nach § 823 II BGB setzt voraus: Schutzgesetz, Verletzung (Handlung), haftungsbegründende Kausalität (zwischen Rechtsgutverletzung und Handlung), Rechtswidrigkeit, Verschulden, Schaden, haftungsausfüllende Kausalität (zwischen Rechtsgutverletzung und Schaden). Sofern die Tatbestandsvoraussetzungen durch den Vorstand einer AG erfüllt worden sind, haftet diese hierfür nach § 31 BGB (§ 31 BGB wurde vom BGH hier nicht erwähnt).

a) Schutzgesetz

Bei §§ 6 I, 27 I EG-FGV müsste es sich um entsprechende Schutzgesetze handeln. Unter einem Gesetz im Sinne des § 823 II BGB ist gem. Art. 2 EGBGB jede Rechtsnorm zu verstehen. Darunter fallen nicht nur formelle Gesetze, sondern jede Norm des objektiven Rechts – auch solche des Europarechts. Die Norm muss aber einen individualschützenden Charakter aufweisen.

Diese Voraussetzung erfüllen § 6 Absatz I, § 27 Absatz I EG-FGV. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung bedarf es keiner weitergehenden Ermächtigung des Verordnungsgebers zum Erlass von Regelungen zum deliktsrechtlichen Schutz der sachlichen Individualinteressen von Fahrzeugkäufern, um aus § 823 Absatz II BGB eine Haftung des Fahrzeugherstellers bei einem schuldhaften Verstoß gegen diese Bestimmungen ableiten zu können. Anknüpfend an die in §§ 6 Absatz I, 27 Absatz I EG-FGV normierten Ge- und Verbote wird die deliktische Haftung des Fahrzeugherstellers nach Maßgabe der unionsrechtlichen Vorgaben – Gewährung eines effektiven und verhältnismäßigen Schadensersatzes im Falle des enttäuschten Käufervertrauens – dadurch begründet, dass gem. § 823 Absatz II BGB derjenige, der gegen ein den Schutz eines anderen bezweckenden Gesetz verstößt, dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet ist. Dementsprechend kommt es auch nicht darauf an, ob der Verordnungsgeber einen deliktischen Schadensersatzanspruch schaffen wollte. Der Wortlaut der Vorschriften steht einem unionsrechtlich fundierten Verständnis als Schutzgesetze, deren sachlicher Schutzbereich den Differenzschaden bei Abschluss des Kaufvertrags umfasst, nicht entgegen.

Bei §§ 6 I, 27 I EG-FGV handelt es sich somit um entsprechende Schutzgesetze. Ferner ist die Haftung aus § 823 II BGB nicht auf die in § 823 I BGB aufgeführten Rechtsgüter beschränkt, sondern besteht z.B. auch bei reinen Vermögensschäden.

K hat allerdings

keinen Anspruch auf Gewähr „großen“ Schadensersatzes entnommen. § 6 Absatz I, § 27 Absatz I EG-FGV iVm Art. 5 VO (EG) 715/2007 schützen zwar das Vertrauen des Käufers auf die Übereinstimmung des Fahrzeugs mit allen maßgebenden Rechtsakten beim Fahrzeugkauf. Der Schutz erstreckt sich aber nicht auf das Interesse des Käufers, nicht an dem Vertrag festgehalten zu werden. Auch das Unionsrecht verlangt nicht, den Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Kraftfahrzeugs so zu stellen, als habe er den Kaufvertrag nicht abgeschlossen, also das Interesse auf Rückabwicklung des Kaufvertrags in den sachlichen Schutzbereich der § 6 Absatz I, § 27 Absatz I EG-FGV einzubeziehen.

b) Verletzung

Durch die Erteilung einer unzutreffenden Übereinstimmungsentscheidung hat B die Schutzgesetze verletzt.

c) Haftungsbegründende Kausalität

Ferner ist die haftungsbegründende Kausalität gegeben.

d) Rechtswidrigkeit

Eine widerrechtliche und somit rechtswidrige Verletzung liegt vor.

e) Verschulden

Das Verschulden richtet sich nach den Regeln des Verbotsgesetzes. (Im Übrigen bedarf es zumindest einer fahrlässigen Verletzung, vgl. § 823 II 2 BGB). Dabei reicht auch eine mindestens leicht fahrlässige Verletzung.

Da § 37 Absatz I EG-FGV den vorsätzlichen und fahrlässigen Verstoß gegen § 27 Absatz I 1 EG-FGV als Ordnungswidrigkeit behandelt, genügt für eine Schadensersatzpflicht nach § 823 Absatz II BGB der fahrlässige Verstoß gegen die EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung im Sinne des objektiven Fahrlässigkeitsmaßstabs des BGB.

f) Schaden

Ferner müsste K ein Schaden, also ein unfreiwilliges Vermögensopfer, entstanden sein. K hat

einen Vermögensschaden im Sinne der Differenzhypothese erlitten … Die Kl. hat ein Fahrzeug erworben, das dem Gebrauch als Fortbewegungsmittel im Straßenverkehr dient. Da ihr infolge der revisionsrechtlich zu unterstellenden unzulässigen Abschalteinrichtung Maßnahmen bis hin zu einer Betriebsbeschränkung oder -untersagung durch die Zulassungsbehörde gem. § 5 Absatz I FZV drohen, steht die zweckentsprechende Nutzung des erworbenen Fahrzeugs infrage. Die damit einhergehende, zeitlich nicht absehbare Unsicherheit, das erworbene Kraftfahrzeug jederzeit seinem Zweck entsprechend nutzen zu dürfen, setzt den objektiven Wert des Kaufgegenstands im maßgeblichen Zeitpunkt der Vertrauensinvestition der Kl. bei Abschluss des Kaufvertrags herab, weil schon in der Gebrauchsmöglichkeit als solcher ein geldwerter Vorteil liegt…. Der Vermögensschaden der Kl. beruht auf der Verringerung des objektiven Werts des von ihr erworbenen Fahrzeugs in Folge der Ausrüstung mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Ein ersatzfähiger Vermögensschaden der Kl. scheidet entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung auch nicht deshalb aus, weil die Bekl. der Kl. ein Update für die Motorsteuerungssoftware angeboten hat. Für die Schadensentstehung ist der Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgebend. Eine etwaige Aufwertung des Fahrzeugs durch ein Software-Update als nachträgliche Maßnahme der Bekl. ist im Wege der Vorteilsausgleichung zu berücksichtigen. Eine solche Aufwertung setzt allerdings voraus, dass das Software-Update die Gefahr von Betriebsbeschränkungen signifikant reduziert. Gleiches muss jedenfalls für ein von der Bekl. bislang nur angebotenes Software-Update gelten, damit die Bekl. der Kl. anspruchsmindernd entgegenhalten kann, von diesem Angebot keinen Gebrauch gemacht zu haben.

Dies liegt nicht vor.

Im Rahmen der von § 249 I BGB vorausgesetzten Differenzhypothese (= Differenz zwischen realer und hypothetischer Vermögenslage) kann K den Differenzschaden als Schadensersatz verlangen. Jedoch ist

bei der Ermittlung der gem. § 287 Absatz I ZPO festzustellenden Höhe des Differenzschadens das Schätzungsermessen des Tatrichters aufgrund unionsrechtlicher Vorgaben innerhalb einer Bandbreite zwischen 5 % und 15 % des gezahlten Kaufpreises rechtlich begrenzt. Der EuGH habe festgehalten, dass die vorzusehenden Sanktionen nach Art. 46 RL 2007/46/EG und Art. 13 I VO (EG) 715/2007 wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssten und dass nationale Vorschriften dem Käufer die Erlangung eines angemessenen Schadensersatzes nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürften. Der geschätzte Schaden könne daher aus Gründen unionsrechtlicher Effektivität nicht geringer sein als 5 % des gezahlten Kaufpreises. Umgekehrt könne ein allein nach § 823 II BGB iVm §§ § 6 Absatz I, § 27 Absatz I EG-FGV und nicht auch nach §§ 826, 31 BGB BGB geschuldeter Schadensersatz aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht höher sein als 15 % des gezahlten Kaufpreises.

K kann also lediglich einen Schadensersatz verlangen innerhalb eines Rahmens von 5 % des Kaufpreises (=2.245 Euro) und 15 % (=6.735 Euro).

g) Haftungsausfüllende Kausalität

Ferner ist die haftungsausfüllende Kausalität gegeben.

Ergebnis:

K hat gegen B keinen Schadensersatzanspruch i.H.v. 33.652,45 Euro nach §§ 823 II, 31 BGB i.V.m. §§ 6 I, 27 I EG-FGV, sondern nur i.H.v. 2.245 Euro bis 6.735 Euro.

C. Prüfungsrelevanz

Das Deliktsrecht ist regelmäßig Prüfungsgegenstand. In der vorliegenden Entscheidung ging es dabei um die Ausstattung eines Pkw mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung, einem sog. Thermofenster. Der sog. Dieselskandal betrifft nicht nur das vertragliche Schuldrecht, also das Verhältnis Käufer und Verkäufer, sondern wie vorliegend im Verhältnis Erwerber und Hersteller das Recht der unerlaubten Handlung.

Die Entscheidung ist sehr prüfungsrelevant, da sie die Möglichkeit bietet, die nicht einschlägigen Anspruchsgrundlagen eines vertraglichen Schadensersatzanspruchs nach §§ 434 f. BGB sowie eines vertragsähnlichen Anspruchs aus c.i.c. gem. §§ 280 I, 311 II Nr. 1, 241 II BGB auszuscheiden und sich sodann intensiv mit den Voraussetzungen eines Schadensersatzanspruchs aus dem Deliktsrecht nach § 826 BGB i.V.m. der Organhaftung nach § 31 BGB und der Verletzung eines Schutzgesetzes nach § 823 II BGB i.V.m. europarechtlichen Vorschriften auseinanderzusetzen.

(BGH Urt. v. 20.7.2023 – III ZR 267/20)