BGH zur Verwertbarkeit einer audio-visuellen Zeugenvernehmung

BGH zur Verwertbarkeit einer audio-visuellen Zeugenvernehmung

Greift das Verwertungsverbot des § 252 StPO?

Macht ein Zeuge erst in der Hauptverhandlung gem. § 52 StPO von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, dann darf das Protokoll der im Ermittlungsverfahren durchgeführten Vernehmung nicht verlesen werden. Greift das Verwertungsverbot des § 252 StPO aber auch bei einer Bild-Ton-Aufzeichnung gem. § 255a StPO? Diese Frage ist jedenfalls bei § 255a II StPO gar nicht so einfach zu beantworten, weswegen wir uns die nachfolgende BGH-Entscheidung einmal näher ansehen wollen.

A. Sachverhalt

Das LG Schwerin hatte den Angeklagten A vom Vorwurf des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen freigesprochen. Der Angeklagte hatte von seinem Recht, die Aussage zu verweigern, Gebrauch gemacht. Der einzige Zeuge, sein zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 6 Jahre alter Sohn J.G., zugleich das mögliche Opfer der Straftat, verweigerte in der Hauptverhandlung das Zeugnis.

Er war jedoch zuvor ermittlungsrichterlich vernommen worden, wobei diese Aussage gem. § 255a II StPO aufgezeichnet worden war. Zu den Umständen der Vernehmung kann der BGH-Entscheidung (Urt. v. 14.12.2023 – 6 StR 340/21) Folgendes entnommen werden:

„Der mit Blick auf ein - irrtümlich angenommenes - gemeinsames Sorgerecht des Angeklagten und der Kindsmutter bestellte Ergänzungspfleger hatte tags zuvor schriftlich gegenüber dem Amtsgericht erklärt, dass das Kind von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch machen werde. Zu Beginn der Vernehmung wurde der Zeuge richterlich auf seine Wahrheitspflicht hingewiesen und ferner wie folgt belehrt: „Und wenn wir jetzt Fragen stellen nach deinem Papa und du sagst, ach, das will ich lieber nicht beantworten, dann sagst du mir das. Dann sagst du mir, das will ich lieber nicht erzählen, okay?“. Anschließend sagte der Zeuge zur Sache aus. Der Verteidiger konnte mittels elektronischer Nachrichten an der Vernehmung aus einem Nebenzimmer mitwirken, in das die Vernehmung audio-visuell übertragen wurde.“

Die Staatsanwaltschaft legte gegen das Urteil Revision ein und machte mit der Aufklärungsrüge die Verletzung formellen Rechts geltend. Gem. § 244 II StPO ist das Gericht verpflichtet, den Sachverhalt umfassend aufzuklären. Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft hatte das erstinstanzliche Gericht zu Unrecht ein Beweisverwertungsverbot bzgl. der audio-visuell hergestellten Aufzeichnung der Aussage des Zeugen angenommen und war damit seiner Aufklärungspflicht nicht nachgekommen.

B. Entscheidung

Der BGH (Urt. v. 14.12.2023 – 6 StR 340/21) bestätigt jedoch die Annahme eines Beweisverwertungsverbots.

I. § 252 StPO

Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Verwertbarkeit der Aussage des Sohnes als Zeugen ist zunächst einmal § 252 StPO. Hieraus ergibt sich, dass die Aussage eines Zeugen, der erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht, nicht durch die Verlesung des Protokolls ersetzt werden darf.

Da die Norm ausdrücklich nur die Verlesung des Protokolls untersagt, stellt sich die Frage, ob nicht die Person, die den Zeugen verhört und das Protokoll gefertigt hat, als Zeuge über den Inhalt der Aussage vernommen werden darf. Dies würde jedoch eine Umgehung des Verlesungsverbots darstellen und ist damit nach h.M. jedenfalls dann unzulässig, wenn es sich um eine polizeiliche oder staatsanwaltliche Verhörsperson handelt. Handelt es sich hingegen um eine richterliche Verhörsperson, dann ist eine Einvernahme nach h.M., auch der des BGH möglich. Begründet wird dies mit der erhöhten, auch dem Zeugen erkennbaren Bedeutung einer richterlichen Vernehmung, die sich zudem auch aus den §§ 251 II, 254 StPO ergibt.

II. § 255a II StPO

In der Hauptverhandlung vor dem LG Schwerin wurde jedoch nicht der Richter als Zeuge vernommen, sondern es wurde die audio-visuelle Aufzeichnung von der Einvernahme des Sohnes als Zeugen abgespielt. Hier greift nun § 255a StPO.

In Abs. 1 hat der Gesetzgeber ausdrücklich Bezug genommen auf § 252 StPO, sodass ein die Aussage ersetzendes Vorführen der aufgezeichneten Aussage nicht möglich ist.

Abs. 2 jedoch hat auf eine solche Bezugnahme verzichtet. Die dort geregelte Durchbrechung des sich aus § 261 StPO ergebenden Unmittelbarkeitsgrundsatzes ist im Schutz der minderjährigen Zeugen begründet, welche den psychischen Belastungen einer erneuten Vernehmung vor Gericht nicht ausgesetzt werden sollen.

Nach Meinung des BGH (Urt. v. 14.12.2023 – 6 StR 340/21) ist die audio-visuell aufgezeichnete Einvernahme durch den Richter damit als gleichsam vorverlagerter Teil der Hauptverhandlung anzusehen. Sofern die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen, steht § 252 StPO damit einer Verwertung der audio-visuellen Aufzeichnung nicht entgegen.

Begründet hatte dies der BGH (Beschl. v. 26.11.2019 – 5 StR 555/19) bereits zuvor mit dem verfassungsrechtlichen Gebot bestmöglicher Sachaufklärung. Da § 252 StPO die Einvernahme des Richters nicht verbiete, wäre es mit diesem Gebot nicht vereinbar, auf das überlegene Beweismittel der Videoaufnahme zu verzichten und stattdessen den Richter als Zeugen vom Hörensagen zu hören.

Da vorliegend die Beschuldigtenrechte dadurch gewahrt wurden, dass die Verteidigung in einem Nebenraum zugegen war und mittels elektronischer Nachrichten mitwirken konnte und zudem wegen einer Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung, mithin also wegen einer Katalogtat ermittelt wurde, könnte die audio-visuelle Aufzeichnung verwertbar sein.

III. § 52 StPO

Kommen wir damit zum 3. Prüfungsschritt. Der BGH hat deutlich gemacht, dass

„die vernehmungsersetzende Vorführung dieses Beweissurrogats nach § 255a Abs. 2 StPO … indessen eine vorangegangene ordnungsgemäße Beweiserhebung unter Wahrung der wesentlichen Verfahrensvorschriften voraus (setzt).“

In einer Klausur müsstest Du nun also prüfen, ob die Einvernahme des Sohnes den Anforderungen des § 52 StPO genügte.

Zunächst einmal müsste der Sohn überhaupt ein Zeugnisverweigerungsrecht haben, was vorliegend gem. § 52 I Nr. 3 StPO unproblematisch der Fall ist.

Dann müsste der Zeuge aber auch gem. Abs. 3 S. 1 ordnungsgemäß über sein Recht belehrt worden sein. Bei einem Belehrungsmangel fehlt es, so der BGH (Urt. v. 14.12.2023 – 6 StR 340/21)

„an einer wirksamen Disposition des Zeugen im Rahmen der richterlichen Vernehmung über sein Recht aus § 52 Abs. 1 StPO und mithin an einem ordnungsgemäß vorangegangenen Verfahren.“

Nun wurde der Sohn vom Ermittlungsrichter kindgerecht belehrt, allerdings nicht über sein Recht aus § 52 StPO. Hier hat der BGH (Urt. v. 14.12.2023 – 6 StR 340/21) Folgendes angemerkt:

„Hier reichte die dem Zeugen erteilte Belehrung nicht aus, um den Weg zu einer Vorführung der aufgezeichneten Zeugenvernehmung (§ 255a Abs. 2 StPO) zu öffnen. Die Belehrung nach § 52 Abs. 3 StPO erweist sich bereits mit Blick auf den Umfang des Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO als mangelhaft. Die gewählten Formulierungen legen - auch eingedenk der gebotenen und hier ersichtlich vorgenommenen kindgerechten Fassung - nahe, dass der Zeuge zwar die Antworten auf einzelne Fragen (vgl. § 55 StPO), nicht aber - wie ihm gesetzlich garantiert - die Aussage vollständig verweigern kann. Überdies fehlte es an dem Hinweis an den Zeugen, dass er sein Recht auf Verweigerung des Zeugnisses auch ungeachtet der vom Ergänzungspfleger erteilten Zustimmung ausüben kann.“

Die unzureichende Belehrung hat damit zu einer rechtswidrigen Beweisgewinnung geführt. Daraus muss nicht zwingend ein Beweisverwertungsverbot folgen. Dieses ist vielmehr anhand der Abwägungslehre zu bestimmen. Dabei ist das Interesse an einer Strafverfolgung ebenso wie das Interesse an einem rechtsstaatlichen Verfahren die Abwägung mit einzubeziehen. Bei § 52 StPO folgt allerdings i.d.R. aus einer rechtswidrigen Beweisgewinnung ein Beweisverwertungsverbot. Etwas anderes gilt nur dann, wenn der Zeuge seine Rechte kannte (BGHSt 40, 336).

Vorliegend hat der BGH das Beweisverwertungsverbot aufgrund der unzureichenden Belehrung bejaht, weswegen das Urteil nicht aufgehoben wurde.

IV. Genehmigung

Der BGH hat abschließend darauf hingewiesen, dass grds. ein zum Beweisverwertungsverbot führender Verfahrensfehler geheilt werden könne, wenn der Zeuge nach ausdrücklicher Belehrung über die Folgen die Verwertung des Beweismittels genehmige (Beschl. v. 25.08.2020 – 2 StR 202/20). Ob das vorliegend der Fall war, konnte der BGH aufgrund der mangelhaft begründeten Revision allerdings nicht feststellen.

C. Prüfungsrelevanz

Beweisverwertungsverbote sind der „Klassiker“ bei StPO – Zusatzfragen. Dabei wirst Du es nicht mit den im Gesetz ausdrücklich geregelten Beweisverwertungsverboten wie z.B. § 136a StPO zu tun bekommen, sondern mit den durch Abwägung zu ermittelnden Beweisverwertungsverboten. Häufig wird es um fehlerhafte Belehrungen gehen, so bei §§ 52, 55 und 136 StPO.

Das Besondere der besprochenen Entscheidung ist der Einstieg über § 252 StPO im Zusammenspiel mit dem erst Ende 2020 in Kraft getretenen § 255a StPO.

(BGH, Urt. v. 14.12.2023 – 6 StR 340/21)