BVerfG zur Strafbarkeit und Strafaufklärung des Adbusting

BVerfG zur Strafbarkeit und Strafaufklärung des Adbusting

Das BVerfG nimmt im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde Stellung

Adbusting ist eine neue Protestform durch Verfremdungen von Werbeplakaten im öffentlichen Raum. Ist dies angesichts der Meinungs- und Kunstfreiheit strafbar? Art. 13 GG: Ist zur Aufklärung einer Tatbegehung die Anordnung einer Hausdurchsuchung verhältnismäßig?

A. Vereinfachter Sachverhalt

Die B engagiert sich mit ihrer Freundin für eine soldatenfreie Friedenspolitik und damit gegen die Bundeswehr. Sie wurde von zwei Polizeibeamten dabei beobachtet, als sie einen Schaukasten an einer Bushaltestelle öffnete, um ein dortiges Werbeplakat der Bundeswehr zu entnehmen und durch ein optisch verwechslungsfähiges, aber inhaltlich verfälschtes Plakat zu ersetzen. Der Text des Plakats war so verändert worden, dass der Text eine deutliche Ablehnung der Bundeswehr zum Ausdruck brachte. Die Polizisten unterbanden die Entfernung des Plakats und stellten das mitgebrachte Werbeplakat sowie die verwendeten Werkzeuge sicher.

Auf Antrag der Polizei erließ das zuständige Amtsgericht später eine Durchsuchungsanordnung für die Wohnung der B, um weitere Beweismittel sicherzustellen (Werkzeuge zum Öffnen der Schaukästen, Schablonen, Materialien zur Umgestaltung von Plakaten, Mobiltelefone zur fotografischen Dokumentation). Die Durchsuchung ist dann erfolgt.

B hatte gegen den Durchsuchungsbeschluss Beschwerde beim Landgericht eingelegt. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen und ausgeführt, dass „Adbusting“ im konkreten Fall als versuchter Diebstahl und Sachbeschädigung strafbar sei. Es sei verhältnismäßig, wenn sich durch eine Hausdurchsuchung der Tatverdacht noch weiter erhärten lasse.

Drei Monate später hat der Staatsanwalt das Verfahren nach § 153 I Satz 2 StPO eingestellt. Die Schuld der B sei gering, es bestehe kein öffentliches Interesse an der Verfolgung.

B hat gegen die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Landgerichts umgehend Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie rügt eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 5 I (Meinungsfreiheit), Art. 5 III (Kunstfreiheit) und auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Mit Erfolg?

B. Entscheidung

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg, weil sie zulässig und begründet ist.

I. Zulässigkeit

1. Zuständigkeit

Das BVerfG ist nur zuständig, wenn ihm das Verfahren ausdrücklich zugewiesen ist. Dazu zählt die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 I Nr. 4a GG.

2. Zulässigkeitsvoraussetzungen

Die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde richten sich nach §§ 13 Nr. 8a, 90 ff BVerfGG.

a) Streitgegenstand

Streitgegenstand kann jede Maßnahme der öffentlichen Gewalt und damit eine Entscheidung eines Gerichts sein. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Beschluss des Amtsgerichts und des Landgerichts.

b) Beschwerdebefungnis

Die Beschwerdebefugnis setzt voraus, dass die Antragstellerin behaupten kann, durch den angegriffenen Hoheitsakt selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder in einem durch Art. 93 I Nr. 4a GG gleichgestellten Recht betroffen zu sein. Gerichtsentscheidungen beruhen auf einer Rechtsanwendung. Wird nur die Belastung durch die fehlerhafte Anwendung einfachen Rechts und die daraus folgende Grundrechtsverletzung gerügt, reicht dies für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde nicht aus. Es bedarf der Behauptung einer spezifischen Grundrechtsverletzung.

Das ist im vorliegenden Fall gegeben, weil B sich auf ihre Freiheitsrechte zur Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG), zur Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) und – wegen der Wohnungsdurchsuchung – auch auf Art. 13 I GG berufen kann.

c) Rechtswegerschöpfung

Der Rechtsweg ist erschöpft, nachdem die B erfolglos Beschwerde eingelegt hat (vgl. §§ 304, 310 StPO).

d) Frist

Die Frist zur Einlegung einer Verfassungsbeschwerde beträgt bei Gesetzen ein Jahr (§ 93 III BVerfGG), sonst – so bei Entscheidungen der Gerichte – ein Monat, sie wurde eingehalten.

II. Begründetheit

Das BVerfG hebt die angegriffenen Entscheidungen auf, wenn sie die Grundrechte der B verletzen (§ 95 II BVerfGG).

1. Hausdurchsuchung

Eine Hausdurchsuchung beinhaltet einen Eingriff in die Unverletzlichkeit der Wohnung und damit in das Grundrecht aus Art. 13 I GG. Eine Durchsuchung ist ein besonders weitgehender Eingriff und deshalb nur verfassungsgemäß, wenn der qualifizierte Gesetzesvorbehalt des Art. 13 II GG (Richtervorbehalt) beachtet ist. Geht es hingegen um ein sonstiges Betreten einer Wohnung, ist Maßstabsnorm Art. 13 VII GG.

Um eine Durchsuchung handelt es sich, wenn innerhalb einer Wohnung nach Gegenständen gesucht wird und deshalb besonders intensiv in die Privatsphäre eingegriffen wird. Darum ging es im vorliegenden Fall, weil die Polizei die Wohnung der B aufsuchen sollte, um weitere Beweismittel sicherzustellen.

Die besonderen Anforderungen an die Eingriffsrechtfertigung nach Art. 13 II GG umschreibt das BVerfG wie folgt (Rn. 22):

„Erforderlich hierfür ist eine parlamentsgesetzliche Ermächtigungsgrundlage (vgl. BVerfGK 16, 142 <145>), die die materiell-rechtlichen Voraussetzungen der Durchsuchung regelt (vgl. Hermes, in: Dreier, GG, 3. Aufl. 2013, Art. 13 Rn. 49), die Anordnung der Durchsuchung durch den Richter, bei Gefahr im Verzug durch die anderen in der Ermächtigungsgrundlage bestimmten Organe, und die Verhältnismäßigkeit der Maßnahme (vgl. zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit BVerfGK 16, 142 <146>). Die Anwendung des einfachen Rechts obliegt dabei grundsätzlich den Fachgerichten. Das Bundesverfassungsgericht prüft lediglich die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts (vgl. BVerfGE 1, 418 <420>; 18, 85 <92>; 95, 96 <127 f.>; 115, 166 <199>).“

a) Gesetz im Sinne des Art. 13 II GG

Gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für die Durchsuchung der Wohnung eines Beschuldigten ist § 102 StPO. Die Vorschrift erfüllt die qualifizierten Anforderungen des Art. 13 II GG, weil die Entscheidung – außer bei Gefahr im Verzug – dem Richter vorbehalten ist.

b) Verfassungsgemäßheit des Eingriffsgesetzes

Die gesetzliche Bestimmung ist ihrerseits im Übrigen verfassungsgemäß (vgl. Art. 74 I Nr. 1 GG) und verhältnismäßig, wenn ihr Tatbestand – wie folgt – einschränkend interpretiert wird (Rn. 24):

„Nach § 102 StPO notwendiger, aber auch in Anbetracht der Eingriffsintensität einer Wohnungsdurchsuchung hinreichender Anlass für eine Durchsuchung nach dieser Vorschrift ist der Verdacht, dass durch den Adressaten der Durchsuchung eine Straftat begangen wurde. Das Gewicht des Eingriffs verlangt auf konkreten Tatsachen beruhende Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen (vgl. BVerfGE 44, 353 <371 f.>; 115, 166 <197 f.>; BVerfGK 2, 290 <295>; 5, 84 <88>).“

Wenn die Polizei im Augenblick einer Tatbegehung vor Ort ist und im Anschluss daran eine Hausdurchsuchung beantragt, wird im Fall der Stattgabe die Vorschrift in der vorstehenden verfassungskonformen Weise interpretiert und angewendet.

c) Verfassungsgemäßheit des Vollzugs

Nicht nur das dem Eingriff zugrunde liegende Gesetz (§ 102 StPO), sondern auch die Rechtsanwendung (Durchsuchungsbeschluss) muss verhältnismäßig sein (Rn. 26):

„Dem erheblichen Eingriff in die grundrechtlich geschützte Lebenssphäre des Betroffenen entspricht ein besonderes Rechtfertigungsbedürfnis nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Durchsuchung muss im Blick auf den bei der Anordnung verfolgten gesetzlichen Zweck erfolgversprechend sein. Ferner muss gerade diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung der Straftat erforderlich sein, was nicht der Fall ist, wenn andere, weniger einschneidende Mittel zur Verfügung stehen. Schließlich muss der jeweilige Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der konkreten Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen (vgl. BVerfGE 42, 212 <220>; 59, 95 <97>; 96, 44 <51>; 115, 166 <198>). Hierbei sind auch die Bedeutung des potentiellen Beweismittels für das Strafverfahren sowie der Grad des auf verfahrenserhebliche Informationen bezogenen Auffindeverdachts zu bewerten (vgl. BVerfGE 115, 166 <197>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 20. November 2019 - 2 BvR 31/19, 2 BvR 886/19 -, Rn. 25).“

Es lag zwar ein Anfangsverdacht bezogen auf eine Straftat vor. Wird im Fall des „Adbusting“ das Plakat entfernt, handelt es sich um einen Diebstahl (§ 242 StGB). Zudem liegt eine Sachbeschädigung vor (§ 303 StGB). Ein schwerer Fall ist wegen der Geringwertigkeit auszuschließen. Der Durchsuchungsbeschluss ist deshalb nur verhältnismäßig, wenn die im konkreten Fall zu erwartende Strafe gegenüber der Eingriffsintensität der durchgeführten Wohnungsdurchsuchung ein rechtfertigendes Gewicht hat. Daran fehlt es hier (Rn. 35/36):

„Ob die Durchsuchung eventuell zur Aufklärung bislang ungeklärter Fälle des “Adbustings” hätte beitragen können, muss bei der Frage nach der Schwere der aufzuklärenden Tat daher außer Betracht bleiben. Die zu erwartende Strafe - hätte sich der Tatverdacht des versuchten Diebstahls und der vollendeten Sachbeschädigung im Rahmen der Durchsuchung bestätigt - wäre daher voraussichtlich niedrig ausgefallen. Zwar spricht aus den Taten die Bereitschaft, sich über fremde Eigentums- und Besitzrechte hinwegzusetzen. Zudem übersteigt der Werbewert der Plakate deren materiellen Wert, sodass voraussichtlich keine Bagatellstraftaten anzunehmen gewesen wären. Da es sich bei Erhärtung des Tatverdachts jedoch lediglich um einen versuchten Diebstahl und eine Sachbeschädigung einer jeweils nicht wertvollen Sache gehandelt hätte, wäre die zu erwartende Strafe aufgrund der fehlenden Schwere der Taten wohl dennoch gering.“

„Selbst wenn - wie in den Durchsuchungsanordnungen angegeben - in der Wohnung der Beschwerdeführerin andere Werbeplakate, Werkzeuge zum Öffnen der Schaukästen, Schablonen und sonstige Materialien zur Umgestaltung von Plakaten sowie Mobiltelefone oder Tablets, die die Umgestaltung der Plakate dokumentierten, gefunden worden wären, so könnten diese Gegenstände allenfalls belegen, dass die Beschwerdeführerin wohl für die “Adbusting”-Szene aktiv ist. Einen Rückschluss darauf, ob die Beschwerdeführerin am Tattag in Zueignungsabsicht gehandelt hat, ließen diese Gegenstände hingegen kaum zu.“

d) Zwischenergebnis

Zwischenergebnis ist danach, dass es in Anwendung eines grundrechtseinschränkenden Gesetzes im Sinne des Art. 13 II GG zu einem im Einzelfall unverhältnismäßigen Eingriff gekommen ist, sodass das Grundrecht aus Art. 13 I GG verletzt ist.

2. Meinungsfreiheit Art. 5 I GG und Kunstfreiheit Art. 5 III GG

Demgegenüber treten die Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) und die Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) bei einer wertenden Sichtweise zurück. Eine etwaige abschreckende Wirkung, die von einer Hausdurchsuchung auf die Wahrnehmung dieser Freiheitsrechte ausgeht, wäre allenfalls im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Haussuchung zu berücksichtigen, führt aber nicht zu einer eigenständigen thematischen Anwendung dieser Freiheitsrechte.

III. Ergebnis

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, das BVerfG hebt die beanstandeten Entscheidungen von Amtsgericht und Landgericht auf.

(Beschluss vom 05.12.2023 (2 BvR 1749/20))